Nachts auf den Strassen

Blick vom Bodan gegen Westen. Der Garten links gehoert zum Hotel Gruener Baum. Photo: P. Labhart
Blick vom Bodan gegen Westen.

Nachdem wir einiges zusammengetragen haben zum Thema Leben und Treiben auf den Strassen bei Tag, beleuchten wir nun ein wenig die nächtliche Strassenszene. Dabei müssen wir uns vergegenwärtigen, dass in jenen Zeitläufen Tag- und Nachtleben deutlich voneinander geschieden waren. Unterdessen hat sich die zivilisierte Menschheit von den Einflüssen des Himmels so weit emanzipiert, dass das Erlebnis der Nacht beinahe zu einer fremden Sache geworden ist; und auch diese Veränderung des natürlichen Tagesablaufes ist als Errungenschaft von umstrittenem Wert dem 19. Jahrhundert gutzuschreiben. Mit der Etablierung der Strassenbeleuchtung zerriss der geheimnisbergende Mantel der Dunkelheit - ein Vorgang von wahrhaft metaphysischer Bedeutung!

In finsteren Zeiten und eben darum heissen sie vielleicht so - war es ausser bei Vollmond ganz und gar schwarz draussen, und wer sich nach acht Uhr abends noch ausser Hause herumtrieb, wofür es damals selten lautere Gründe gab, der hatte nicht nur seine Laterne, sondern auch das Risiko selbst zu tragen.

Damit den brav schlummernden Bürgern keine bösen Überraschungen heimsuchten und die bei Tag mühsam aufgebaute Ordnung nicht in Gefahr geriet, hatte man den Nachtwächter erfunden. Ihn unterstützten in bedrohlichen Zeiten Rondenwächter und Bürgerwehren, wie z. B. Anno 1847, als im Vorfeld des Sonderbundkrieges der Hass zwischen Liberalen und Konservativen Schlimmstes befürchten liess, weshalb der Gemeinderat beschloss, eine Bürgerwache aufzustellen, um «allen Ernstes Hand zur Handhabung der öffentlichen Ruhe und Ordnung»35 zu bieten.

1883 sind in Rorschach noch drei Nachtwächter aktenkundig, einer von ihnen versah zusätzlich Strassenwärter- und Leichenträgerdienste, so dass man sich leicht vorstellen kann, wieviel sein Diensteifer nachts noch taugte. Die miserabel besoldeten Nachtwächter hatten, wollten sie überleben, gar keine Wahl, als noch irgend welchen andern Beschäftigungen nachzugehen. Ein Nachtwächter, der zugleich die Laternen besorgte, verdiente nach einer Notiz von 1876 1000 Franken im Jahre. Es erstaunt also nicht, dass die Unzuverlässigkeit der Nachtwächter sprichwörtlich wurde und ein Gemeinderatsprotokoll festhält, «die Nachtwache werde ohnehin von denselben als Nebensache betrachtet und teilweise nicht gehörig besorgt.»36 Bereits Jahre früher hatte man diesbezüglich Abhilfe verlangt, «und zwar weniger wegen der Pünktlichkeit im Aufziehen der Uhr als vielmehr darum, dass die Nachtwächter bei jeder vorkommenden Eventualität (Brandausbrüchen, nächtlichen Unfugen usw.) stets präsent und auf ihrem Posten seien.»37

Zwei Nachtwächter mussten 1894 gerügt werden, weil sie es versäumt hatten, die vorgeschriebene Tour abzulaufen und dabei prompt ein Brand zu spät entdeckt wurde. Es ist offenkundig, dass der Nachtwächterberuf nicht das höchste soziale Renommee genoss, weshalb sich denn auch nicht gerade die Wachsten zu diesem Metier hingezogen fühlten. Ein deutscher Buchhändler beschwerte sich 1884, «dass er in der Nacht auf den 21. d. Mts im <Bäumlistorkel> vom Nachtwächter H. verhaftet und erst wieder frei gelassen worden sei, nachdem er demselben gedroht habe, diesen Vorfall augenblicklich der deutschen Gesandtschaft mitzuteilen.» Der zitierte Nachtwächter entschuldigte sich, «dass er von einigen Herren dazu animiert und ohne Berechnung der hieraus entstehenden Folgen die scheinbare Arretierung ... vorgenommen habe.»38

Humpiss'sches Haus, heute Schweizerische Bankgesellschaft. Rechts eine Gaslaterne. Photo: P. Labhart
Humpiss'sches Haus, heute Schweizerische Bankgesellschaft.

Die Einführung der Strassenbeleuchtung und das moderne Polizeiwesen haben die Existenzgrundlage des Nachtwächterberufes allmählich unterminiert. 1874 wies Rorschach eine aus Petrollampen bestehende Strassenbeleuchtung auf. 1875 vermehrte man die Laternenzahl um vier, weil die Bürgerschaft dauernd «über unzureichende Strassenbeleuchtung»39 geklagt hatte. Der zuständige Laternenwärter fühlte sich überfordert und erhielt daraufhin einen erhöhten Jahreslohn zugesprochen. Einzelne Laternen, wie z. B. diejenige auf dem Garibaldiberg, wurden von den Anwohnern bedient, welche jeweils der Gemeinde «für das hiezu gebrauchte Petroleum»40 Rechnung stellten.

Nachdem die Vereinigten Schweizer Bahnen (VSB) seit dem Juli 1882 ihre beiden Rorschacher Bahnhöfe mit Gas beleuchteten, beschloss eine Rorschacher Bürgerversammlung, diese Neuerung auch in der Stadt einzuführen und beauftragte eine Augsburger Firma mit der Erstellung der nötigen Installationen für 80 Gaslaternen. Die VSB lieferten das Gas. 1904 übernahm die Gemeinde die Gasversorgung in eigener Regie und schloss sich dem St. Galler Gaswerk im Rietli an, welches anstelle des bisher verwendeten Fettgases das vielseitig brauchbare Kohlengas produzierte.

Zu Beginn der neunziger Jahre trug man sich mit dem Plane, ein elektrisches Netz aufzubauen. Verschiedene Firmen boten ihre Dienste an. 1893 ist ein Komitee greifbar, das sich mit der Prüfung von Projekten «für elektrische Beleuchtung und Kraftübertragungsanlagen mittelst Wasserkraft»41 beschäftigte. Gar nicht erbaut von diesen Absichten waren als Gaslieferant die VSB. Ein Spottgedicht aus dem <St.Galler Stadt-Anzeiger> vom 5. März 1895 witzelte:

«Zu Rorschach an dem Bodensee,
Da gebt man um mit der Idee,
Zu schaffen sich elektrisch Licht;
Es kommt zustand, man zweifelt nicht.
Doch an den Kragen ginge das
dem dortselbst erzeugten Gas.
Es fürchtet sehr die Gasfabrik
Zu brechen darob ihr Genick.
Da zeterte, ob ach und weh,
Ein Bürochef der VSB,
Es würde ihm gar unbequem
Herabgeschraubt die Tantiem.
...
Trotzdem so lautet der Bericht,
es bricht sich Bahn das neue Licht.»

Weiterlesen im vorherigen / nächsten Kapitel.

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35 Protokoll des Gemeinderates Rorschach, 25.10.1847
36 Protokoll des Gemeinderates Rorschach, 20.11.1883
37 Protokoll des Gemeinderates Rorschach, 1.2.1875
38 Protokoll des Gemeinderates Rorschach, 6.5.1884
39 Protokoll des Gemeinderates Rorschach, 5.10.1875
40 Protokoll des Gemeinderates Rorschach, 16.8.1876
41 Protokoll des Gemeinderates Rorschach, 14.8.1893

Text: Louis Specker
Buchtitel: Rorschacher Kaleidoskop 1985, S.25-27
Historische Skizzen aus der Hafenstadt im hohen 19. Jahrhundert
Copyright: 1985 by E. Löpfe-Benz AG, Rorschach

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