V Die Seeseite des obern Fleckens

Man glaubt sich an die Wasserkante einer Hansestadt versetzt, wenn man das lustige Gewinkel und Gewirr der Wasserfront verfolgt. Die Rorschacher Buben und Mädchen hatten im 18. Jahrhundert geradezu herrliche Zeiten! Wo sind die Mauerstiegen und Palisadenreihen der wellenbrechenden Seepfähle, wo die eigenwillig ins Wasser vorspringenden Bauten mit ihren Schöpfen und Gärtchen, den engen Gässchen und Schlipfen. Fast jede Hofstatt in diesem «Klein-Venedig» hatte ihren eigenen Landeplatz. Da konnte, wer waten und schwimmen nicht fürchtete, im Sommer über Mauern und Pfähle (was vielleicht verboten war) die Uferlinie «abschreiten», einen Blick tun in reizvolle, gepflegte Uferwinkel oder auf irgend einem Mäuerchen dem Fischfang obliegen. An breiten Uferböschungen (oberhalb des heutigen Hauses Buob und anstelle des Hauses Engensperger) konnte man zusehen, wie mächtige, aus dem Bregenzerwald oder von Rheineck hergeflösste Blöcher und Stämme aus dem See gezogen und zwischen den Häusern aufgestapelt wurden. Ähnliche Stellen befanden sich in Staad, beim Riedtli und beim Horner Schloss. Mit selbstverfertgten Schiffchen oder Gössen liess sich das ganze Ufer vor den Heimstätten, hinein und hinaus, abfahren, wobei man schauderte, wenn sich an den Bachmündungen die hässlichen Ratten blicken liessen. Mindestens nach zwei, drei Häusern lief ein enges Gässchen zum See. Solche Durchgänge durften, nach den Rorschacher Wegordnungen, nicht verbaut oder verstellt werden, damit bei Feuersbrünsten männiglich auf kürzestem Weg ans Wasser gelange.

Wohin sind die mittelalterlichen Uferränder und - Herrlichkeiten entschwunden? Seit der Jahrhundertwende (1800) ging es mit Riesenschritten neuen Lebensformen entgegen; neuzeitliche Verkehrsmittel, Textil- und Maschinenindustrie begannen das Feld zu beherrschen. Die Bahnlinie am See erheischte von starken Quadermauern geschützte Quaiauffüllungen und trennte Rorschach vom Wasser. Doch jenseits der Schienen wurde dem See neues Land abgewonnen, aus dessen Grün sich herrlich auf Stadt und Landschaft blicken lässt.

Der Leser folge mir mit der Lupe von Osten nach Westen! In der Gegend des Bahnübergangs beim Bellevue stösst der obere und etwas weiter westlich der untere Rebgarten (mit dem Lusthäuschen) der Frau Marschall von Saus in den See vor. Dazwischen liegen – nach einem kleinen Ufergärtchen – der ummauerte Obstgarten der gleichen Besitzerin und (ungefähr in Stadtgartenmitte) mehrere kleine Häuser, in denen die Schwestern Theresia und Franziska Eggmann wohnen und Küfer Anton Hüttenmoser seine Fässer bindet. Nach dem Schlipf folgt die Häusergruppe des 116 Rorschacher Obersten Johann Baptist Keebach, die er von den Hertenstein übernommen hatte. Der jetzt 72jährige Oberst und Ritter des Ordens vom hl. Ludwig hatte sowohl den Österreichischen Erbfolgekrieg als auch den Siebenjährigen Krieg in vorderster Reihe mitgemacht und erreichte ein Alter von 94 Jähren. Vornehm von der Strasse zurückstehend, präsentiert sich daneben als habliches Handelshaus ein breiter Mansardenbau, einer der schönsten von Rorschach, der seit 1816 als katholisches Pfarrhaus dient. Pfalzrat Josef Anton von Bayer (1740-1820) hatte ihn 1786 anstelle von zwei Riegelbauten erstellen lassen. 1794 gehört er einem Vetter des Erbauers, Josef Ferdinand von Bayer (1737-1800). Mit dem benachbarten Haus und Garten des Herrn Resignat Bürke sind wir am Mühlbach angelangt, der mit deutlicher Strömung in den See mündet. Zwischen ihm und dem Haiderbach zählen wir acht Häuser, die alle, mit Ausnahme des achten, Gärten in die blaue Seefläche vorschicken. Das erste (Hauptstrasse 30), dem Rathaus gegenüber, gehört Herrn von Saylern, Obervogt zu Blatten, das zweite (Hauptstr. 32) zwei Damen, der Frau Reichsvögtin Grüebler und Mme von Gummer – offenbar Emigranten – das eng angebaute dritte (anstelle der heutigen Seestrasse) Kornmeister Johann Baptist Corzler und Peter Anton Danielis, Materialist (Gewürzhändler), der auch Nummer vier sein eigen nennt. Das angebaute fünfte Haus gehört zwei verwitweten Frauen des Richters Josef Bürki und des Hofschreibers Jakob Heer. Das nächste, mit seinem Garten am weitesten in den See vorstossende Haus besitzt Oberstleutnant Germann. Wo jetzt das Haus «Gutenberg» steht, der ehemalige Druckort des «Ostschweizerischen Tagblattes», befinden sich Garten und Seeböschung des 1721 gebauten Hauses Engensperger, das als siebtes Haus unserer Reihe seewärts einen zweiten Garten mit Stadel aufweist. Dieses schöne Besitztum ist jetzt (1794) zusamt zwei Häusern auf dem «Schäflegarten-Areal», in der Hand eines Erben des 1791 verstorbenen Geheimrates Josef Leonz Ignaz von Sartori. Als einstiger Offizier im Regiment Dunant (1758), Hofkanzler (1763) und Obervogt (seit 1783) muss er eine markante Persönlichkeit des Reichshofs gewesen sein. Die Sartori scheinen von Fussach zu stammen und siedelten sich zuerst in Berg an. Nach dem Hof Rappen, den sie dort erwarben, nannten sie sich «von Rabenstein». Die Familie entsandte besonders viele Söhne in spanische Dienste. Das achte Haus am Haiderbach endlich mit Garten und Hintergebäude besitzt Kammerrat Felix Josef Wutterini von Gaudenzenthurn bei Bozen, der eine Franziska von Bayer (1728-1786) geehelicht hatte. Die Wutterini sind seit 1756 eingebürgert und stifteten einen Fonds, aus dessen Erträgnissen noch heute unbemittelten Bürgerssöhnen die Erlernung eines Handwerks ermöglicht wird.

Zwischen Haiderbach und Kaufhaus am Hafen liegen fünf Komplexe: zuerst die ineinander verschachtelten Heerschen Häuser, die jetzt den Hoffmann gehören, dann das vornehme Besitztum mit Doppelhaus und Garten des Josef Marzell Hoffmann von Leuchtenstem (1759-1831). Sein doppelter Erker gegen die Hauptstrasse trägt im Früchteschmuck des Rokoko drei biblische Motive zur Schau. Der im Leinwandhandel reich gewordene Besitzer wendet sich mehr und mehr der Politik zu: in der kurzlebigen Helvetischen Republik wird er Landesstatthalter, in der Mediationszeit Gemeinderat und Grosser Rat. Es folgen an der Hauptstrasse – auch ums Kaufhaus herum erreichbar – die Häuser der Witwen des Franz Anton Baumgartner und des Hauptmanns Bernhard Heer, schliesslich die Wirtschaft zur «Ilge» des Constantin Waldmann. Alle diese Wohnplätze an der Wasserfront hatten dem Abt jährlich den Hofstattenpfennig zu zahlen.

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