Das gastliche Rorschach

Szenerie auf der Terrasse des ehemaligen Hafenbuffets um 1900 (Bild aus Taglatt vom 17.12.2011, Seite 13)
Szenerie auf der Terrasse des ehemaligen Hafenbuffets um 1900

Wenn die Anzahl der Gaststätten als Gradmesser für den Stand der Geselligkeits-Kultur gelten darf, dann figurierte Rorschach im 19. Jahrhundert in dieser Beziehung ganz oben. Nach Gemütlichkeit und Zerstreuung Verlangende scheinen hier keinen Mangel gelitten zu haben. 1805 wurden 25 Personen registriert, die berechtigt waren, Getränke auszuschenken, 1869 waren es bereits 51 - der Zusammenhang mit der Entwicklung des Kornmarktes ist nicht zu übersehen. 1889 gab es, bei einer Einwohnerzahl von 5860 Personen, 79 Wirtschaften, und weil kein Ende dieser aufstrebenden Tendenz in Sicht war, gelangte der Gemeinderat an die Regierung mit dem Wunsch, bis auf weiteres keine neuen Patente mehr auszugeben.

Das älteste Wirtshaus in Rorschach war der Goldene Löwen, die äbtische Taverne am Hafenplatz (heute Federerhaus). Um 1800 waren im ganzen Flecken mindestens 12 Wirtshäuser auszumachen, die meisten von ihnen im Unterdorf, also westlich des heutigen Hafenplatzes. Als Postkutschenstation dürfte die <Krone> beim Jakobsbrunnen wohl der wichtigste Gasthofgewesen sein.

In alten Zeiten waren Wirtshäuser nicht nur Orte ungezwungener Geselligkeit, sondern oft auch Tagungsort für Behörden, ein Platz, wo amtliche Geschäfte abgewickelt wurden. Im <Goldenen Löwen> versammelte sich der Pfalzrat, und gelegentlich wurde dort auch Gericht gehalten.

Im 19. Jahrhundert erfolgte im Zusammenhang mit der Emanzipation des Bürgertums und dem aufstrebenden Vereinsleben die Eroberung des Wirtshauses durch breite Volkskreise. Zum Zwecke der Feierabendgestaltung wurde es viel häufiger aufgesucht als früher. Nicht zu übersehen ist bei der allgemeinen Aufwertung der Gaststätten die Mitwirkung der Industrialisierung. Die wachsende Entfremdung in der Arbeitswelt forderte einen Ausgleich, der an Geist und Gemüt nicht allzu hohe Anforderungen stellte.

In der Verschiedenheit der Gaststätten spiegelte sich exakt die Struktur der damaligen Gesellschaft, d.h. die Trennung von Bürgertum und Arbeiterschaft. Es gab eigentliche Proletarierbeizen, Pinten für Kleinbürger und solche, in denen die sog. Besseren verkehrten. Für die am wenigsten Bemittelten bot seit 1871 am Sonnenweg eine Volksküche Speise und Getränke zu günstigen Preisen an.

Die zunehmende Enge in den Lebens- und Arbeitsverhältnissen haben den baumbestandenen Gartenrestaurants zu einer unglaublichen Konjunktur verholfen. Sie wurden zum Ziele der ritualisierten Sonntagsspaziergänge von Arm und Reich. In Alt-Rorschach existierten viele beliebte Gartenwirtschaften: <Badhof>, <Grüner Baum>, <Rosengarten>, <Signal>, <Bäumlistorkel>, um nur einige zu erwähnen. Zu Wirtschaftszwecken erwarb sich 1886 Wilhelm Spirig zum <Schäfle> das St.Anna~Schloss, welches in der Folge zum geschätzten Faktor des sonntäglichen Familienprogramms wurde.

Anzeige aus: «Der Rorschacher Bote» vom 9.4.1887
Anzeige aus: «Der Rorschacher Bote» vom 9.4.1887

In Anbetracht der in den Wirtshäusern bunt zusammengewürfelten Gästeschar, der bekannten Wirkung des Alkohols und aus vielen andern Gründen hat die Obrigkeit diese Stätten möglicher moralischer Infektion genau überwacht und Gesetzen unterworfen, die im letzten Jahrhundert von Mal zu Mal strenger wurden. Ohne tadellosen Leumund erhielt nach dem Gesetz von 1832 kein Bürger ein Wirtschaftspatent. Bis nachts 11 Uhr mussten die Wirtshäuser von «Gästen, die nicht übernachtende Fremde» waren, geräumt sein. Die Bewilligung konnte zurückgezogen werden, wenn erwiesen war,

  1. «dass der Spiel- oder Trunksucht gefrönt oder tumultuarisches, die Ruhe der Nachbarschaft störendes Wesen getrieben oder anstössiges und unsittliches Treiben geduldet werde;
  2. dass gesundheitsschädliche Speisen oder Getränke verabfolgt werden;
  3. dass dem Gesindel Unterschlauf gegeben werde;
  4. dass diesen Vorschriften ... und andern polizeilichen Anordnungen zu wiederholten Malen keine Folge geleistet oder sogar Widerstand entngesetzt werde.»45

Das Wirtschaftsgesetz von 1888 brachte eine wesentliche Verschärfung der Überwachung, verlangte es doch von den Wirten, zur Kontrolle der logierenden Gäste ein sog. Nachtbuch zu führen. Art.37 hält fest: «Sämtliche Wirtschaften sind zu jeder Stunde der polizeilichen Aufsicht unterworfen.»46 Man staunt, in welchem Masse sich damals der Staat verpflichtet fühlte, als Moralhüter aufzutreten und wird den Verdacht nicht los, dass trotz obrigkeitlicher Sittenmandate das Ancien régime mit seiner höchst unzulänglichen Verwaltung dem Volk wahrscheinlich mehr Chancen geboten hat, gewisse Bedürfnisse, die nach dem christlichen Sittenkodex einen niederen Rang einnehmen, ohne allzu grosse Schwierigkeiten zu befriedigen.

Da war 1887 der Fall eines Wirtes, der ins Räderwerk einer moralisch geölten Bürokratie geriet, weil auf dem Wirtshaus, das er zu übernehmen gedachte, ein schlechter Ruf lastete. «Zu seinem grossen Leidwesen und Schaden» musste er erfahren, «dass fast alle Gäste, die kamen, mit Nebenabsichten gekommen waren und höchst verwundert waren, keine <Mädchen> zu finden.»47 Das Bezirksamt erhielt zugetragen, in der erwähnten Wirtschaft sei ein Bordell. Derselbe Denunziant behauptete von einer andern Rorschacher Gaststätte diese verberge in Wahrheit ein unanständiges Etablissement und gab zu Protokoll: «Sie hätten (dort) gewöhnlich ein bis drei Mädchen, die auf den ersten Blick als Dirnen zu erkennen seien; sie seien geputzt und aufgeschnitten. Über die Preise, welche für die Benützung eines Mädchens bezahlt werden müssen, wurden mir keinerlei Mitteilungen gemacht.»48 Die tatsächliche Rückseite der offiziellen bürgerlich-puritanischen Moral oder bloss Tagträume frustrierter Philister?

Die Freuden, die man im tristen Alltag je länger je weniger fand, holte man sich im Wirtshaus, und dass sich unter dem Einfluss berauschender Getränke die eingeübten Umgangsformen manchmal auf lösten, politische Diskussionen z.B. in Handgreiflichkeiten ausarteten, ist nichts Neues unter der Sonne Für die grässlichen Konsequenzen des Alkoholmissbrauchs finden sich in Zeitungen und Polizeirapporten immer wieder traurige Belege. «In der oberen Hubstrasse», weiss eine Zeitung von 1886 zu berichten, «misshandelte ... ein Fuhrknecht von Landeck in betrunkenem Zustande seine zwei Pferde mit Stockschlägen in wahrhaft barbarischer Weise.»49 Und schon damals standen viele Frauen nicht hinter den Lastern der Männer zurück. 1893 verhaftete der Landjäger die «stark betrunkene Creszentia J. Frau J. sei eine der gewohnheitsmässigen Trunksucht ergebene Person, die durch ihre wiederholte Trunksucht schon sehr viel Ärgernis in den Wirtschaften und Strassen Rorschachs gegeben habe.»50

So sorgen gewisse unverrückbare Tatbestände im Strom der Zeiten dafür, dass der Stand der Moralhüter nie um seine Existenz zu bangen braucht.

Weiterlesen im vorherigen / nächsten Kapitel.

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45 Gesetz über die Betreibung von Wirthschaften. St.Gallen, 20. Januar 1832
46 Auszug aus dem Gesetz über die Betreibung von Wirthschaften und den Kleinverkauf von Getränken. Erlassen am
     22. November 1888. Staatsarchiv St.Gallen
47 Brief von Dr. A. Hoffmann, St.Gallen, an den Tit. Regierungsrat des Kantons St.Gallen, 27.9.1887. Staatsarchiv
     St.Gallen
48 Auszug aus dem Verhörprotokoll der Frau Zellweger, geb. Zimmermann. 30.11.1886. Staatsarchiv St.Gallen
49 Rorschacher Bote, 6.11.1886
50 Protokoll des Gemeinderates Rorschach, 19.9.1893

Text: Louis Specker
Buchtitel: Rorschacher Kaleidoskop 1985, S.31-32
Historische Skizzen aus der Hafenstadt im hohen 19. Jahrhundert
Copyright: 1985 by E. Löpfe-Benz AG, Rorschach

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