Um ihrer selbst und um anderer Zwecke willen: Festfreude

Historischer Fasnachtsumzug, März 1889. «Ankunft des ersten Dampfschiffes im Hafen zu Rorschach»
Historischer Fasnachtsumzug, März 1889

«Mag der neuen Zeit hier und da eine Genialität vergangener Perioden fehlen, so ist sie allen früheren in der Durchschnittssumme der Sitte und Humanität überlegen»124, verkündete selbstbewusst 1851 der Historiker Heinrich Sybel und brachte damit das Urteil der Zeit über sich selbst auf die kürzeste Formel. Dass diese Eigenbewertung mit der Wahrheit recht grosszügig umgeht, dass hier mehr der Wunsch als der Wirklichkeitssinn federführend war, dürfte nach allem, was wir erörtert haben, keine Zweifel mehr offenlassen. Optimismus war Pflicht, die Disharmonien der Gegenwart bewertete man als geringfügige Betriebsstörungen, wenn nicht als optische Täuschung. Aus dieser Gestimmtheit leitet sich letztlich die unbändige Festfreudigkeit des 19. Jahrhunderts her, und der unglaubliche wirtschaftliche Aufschwung hat dafür die Mittel zur Verfügung gestellt.

Weshalb denn sollte man sparen, wenn es darum ging, den Stolz darüber zu bekunden, Zeitgenosse eines Jahrhunderts zu sein, das die Eisenbahn und die Fabrikindustrie hervorgebracht hatte? Dennoch, mit dein Älterwerden der Epoche verstärkte sich die Ahnung, dass nicht alles stimme, Anspruch und Wirklichkeit waren je länger je schlechter in Deckung zu bringen und schon Leopold von Ranke hatte geglaubt, an der Zeit die «Physiognomie der Entzweiung» zu erkennen.

Unbehagen hin oder her, einiges konnte man doch vorweisen, worauf man init Recht stolz sein durfte, in erster Linie neben den Leistungen der Technik die Schaffung der nationalen Einheit. Hinter den zahllosen Festivitäten verbarg sich auch die echte und verdiente Begeisterung über Errungenes, nicht nur die Absicht, Ungereimtheiten zu kaschieren. Beide Motive bilden das Elternpaar, das das Kind der Festfreude gezeugt hat. Gegen Ende des Jahrhunderts allerdings liess sich das Unbehagen nicht mehr länger verdrängen; eine Stimmung des Überdrusses und des Missmutes meldete sich immer lauter zu Wort, in der Kunst und Literatur fassbar als sog. <Décadence>. Das böse Ende der Belle-Epoque kündigte sich an.

Auch in Rorschach blühte das Festleben. Zu meist waren es die Vereine, die die grossen Volksfeste von langer Hand vorbereiteten und organisierten. Manchmal aber boten sich unerwartet Gelegenheiten zur friedlich-fröhlichen Zusammenrottung, wie im September 1865, als die Königin von Württemberg ihren Geburtstag feierte, weshalb vor dem Schloss Friedrichshafen ein Feuerwerk losgelassen wurde, das Tausende nach Rorschach lockte, die sich von hier aus an dem prachtvollen Schauspiel ergötzen wollten: «Unzählige Raketen und Raketenbüschel, Feuergarben und Fontänen eröffneten das prachtvolle Schauspiel, das bald das schauerlichste Schlachtengetöse vorstellte, bald . . . ein Bild aus einem Feenmärchen brachte. Jeder Standpunkt, auf dem See wie auf dem Lande, hatte seinen besonderen Vorzug. Zuschauer zur See hatten voraus das wundervolle Echo des Kanonendonners, der sich wie der Donner heftiger Gewitter fortpflanzte und mit einem letzten kräftigen Schlag erstarb.»125

Im Kollektiv zu festen, war auch immer willkommene Gelegenheit, sich in nationalem Enthusiasmus als <ein einig Volk von Brüdern> zu demonstrieren. Rorschach hat nicht wenigen Sänger- und Schützenfesten Gastrecht gewährt. Im August 1865 hielt man mit viel Gepränge das Bezirkssängerfest ab. Im Sommer 1901 ging hier das kantonale Sängerfest über die Bühne. Ein gigantisches Organisationskomiteee von rund 60 Honoratioren nahm sich der Sache an. Fahnen, Ehrenjungfrauen und Umzüge beherrschten tagelang das Bild der Hafenstadt, alles geriet ins Festfieber. Sämtliche örtlichen Chöre wurden zusammen mit der Konstanzer Regimentsmusik aufgeboten zur Darbietung des Begrüssungschores: Lohengrin, I. Akt, III. Szene: «Wie fasst uns selig süsses Grauen! Welch holde Macht hält uns gebannt.» Es war eine süsse Macht, dieses Festleben. Man kam nicht zum Verschnaufen, kaum war ein Fest zu Ende, kündigte sich bereits ein neues an.

Historischer Umzug in Rorschach, den 3. und 4. März 1889, Ausschnitt aus dem Leporello
Historischer Umzug in Rorschach, den 3. und 4. März 1889

Nicht weniger beliebt als die Feiern der sangesfreudigen Bürger waren jene der Schützen. Von Lindau kommend, zogen 1874 die Schützendelegationen aus Österreich und Deutschland durch Rorschach zum eidgenössischen Festort: «Alles hatte die Arbeit niedergelegt und harrte am Hafen des Dampfers, der die liebwerten Gäste bringen sollte.

Unter Kanonendonner, und die wackere Bürgermusik an der Spitze, wurden sie ins schattige Grün des <Seehofgartens> geleitet, allwo sie durch Abgeordnete des Zentralkomitees empfangen wurden.»126 Vom 13. bis zum 19. Juni 1875 dauerte das Kantonalschützenfest: «Ein heller Sonntagmorgen lachte über Berg und Thal, als die Bahnzüge unzählige Scharen Festbesucher daher führten, die durch die festlich geschmückten Gassen hin und her wogten.»127 Im Festzelt, das die Masse kaum zu fassen vermochte, folgte Toast auf Toast, und die Redner feierten überschwänglich den eidgenössischen Brudersinn. Dass dieser allerdings im ständig härter werdenden Existenzkampf je länger je seltener zu finden war, hat die Festfreude nicht im geringsten beeinträchtigt.

Es war ein Eilen und Machen, ein Wogen und Rennen in diesen Jahren, so, als gälte es, mit aller Kraft die stille Biedermeierzeit aufzuholen. Vielleicht trifft ein Ausschnitt aus einem Zeitungsbericht von 1878 die Stimmung am besten: «Überhaupt ist jetzt in Rorschach grosses Leben. Wenn die Sonntage tausende und tausende Besucher aus der näheren Umgebung bringen, so wälzen sich an Wochentagen, namentlich am Montag, Vereine und Hochzeiten bis aus weiter Ferne daher. Dazu kommt noch die unerwartet grosse Zahl Kurgäste und Passanten, welche die Saison für unsere Gasthofbesitzer zu einer ganz befriedigenden machen.»128

Zum Festleben dieser Zeit gehören die Umzüge. 1889 gab es anlässlich der Fasnacht in Rorschach einen historischen Umzug zu bestaunen, der den damals so beliebten Umgang mit der Vergangenheit aufs prachtvollste illustrierte. Man liess die Geschichte in Papiermaché, Holz und Sacktuch aufmarschieren, bevölkerte die mit allen Dekorationstricks aufgemachten Schauwagen mit abenteuerlich bekleideten Gestalten. Die Geschichte der Stadt Rorschach wurde in acht lebenden Bildern zur Darstellung gebracht: «Die Zeit der Pfahlbauer; Der Reichsvogt hält Gericht zu Rorschach; Die Edlen von Rorschach ziehen zur Jagd aus; Die am Klosterbau beteiligten Zünfte; Umzug der Schützengilde; Das Leinwandgewerbe zu Rorschach; Rorschach zur Zeit der Revolution; Ankunft des ersten Dampfschif'fes im Hafen zu Rorschach.» Um dem denkwüdigen Ereignis Dauer zu verleihen, verewigte ein Zeichner den ganzen Umzug in einem Leporello, und im Text dazu wurde denn auch der Sinn dieser historischen Strassenrevue kundgetan:

«In farbenreichn Bildern lern' Vergang'ner Tage Wert erkennen:
Sie sind dahin - so lebe gern
Und schätz', was Dein Du heut darfst nennen.»130

Die Geschichte als Narrenumzug! Wer wagt da noch an der Behauptung festzuhalten, nur in Basel habe der Sinn für Ironie Tradition!

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124 Zitiert bei: G. G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. München 1971, S.156
125 Ostschweizerisches Wochenblatt, 12.9.1865
126 Empfang der Schützen in Rorschach. Ostschweizerisches Wochenblatt, 21.7.1874
127 Kantonal-Schützenfest in Rorschach. Der Rorschacher Bote, 15.6.1875
128 Der Rorschacher Bote, 23.7.1878
129 Historischer Umzug in Rorschach, den 3. und 5. März 1889. Rorschach 1889
130 Ebenda

Text: Louis Specker
Buchtitel: Rorschacher Kaleidoskop 1985, S.62-64
Historische Skizzen aus der Hafenstadt im hohen 19. Jahrhundert
Copyright: 1985 by E. Löpfe-Benz AG, Rorschach

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