Es lebe der Verein!

Gemischter Zither-Kranz. Rorschach 1897
Gemischter Zither-Kranz. Rorschach 1897

Die verwirrende Themenfülle, der man gegenübersteht, wenn man sich mit dem 19. Jahrhundert einlässt, macht die nötige Auswahl zur Qual. Bei einigen Gegenständen jedoch gibt es kein Zögern, weil sie unbestreitbar zu den markanten Punkten der Zeit-Physiognomie gehören. Die beispiellose Popularität des Vereinslebens ist einer von ihnen. Ein Verein, so belehrt uns ein geschätztes Nachschlagewerk, sei eine «auf Dauer angelegte Personenverbindung, die unter einem Vereinsnamen ein ein heitliches Ziel»92 verfolge. Du meine Güte, wie lebensfremd ist abstrakte Lexikon-Weisheit! Wer sich mit dieser Auskunft zufriedengibt, hat vom Wesen des Vereins soviel Ahnung wie jener, der die Vorzüge des Gugelbopfes nur aus dem Kochbuch kennt.

Wenn trotz aller pessimistischen Prognosen das Vereinsleben auch heute noch seinen Platz in der Gesellschaft behauptet und seine Präsenz allenthalben demonstriert, zu vergleichen mit dem, was es im 19. Jahrhundert war, ist es bei weitem nicht mehr. Der klassische Verein mit seinem Präsidenten, seinem Vorstand, seinen Statuten, seiner Hauptversammlung und seinem Stammtisch - kurz, mit all seinen Attributen und Ritualen, ist eine der sympathischsten, weil zugleich harmlosesten Kreationen des vergangenen Jahrhunderts.

Viele Impulse haben zusammengewirkt, bis die volkstümliche Erscheinung des Vereins voll ans Licht trat. Die Auflösung der alten, brauchmässig geordneten Beziehungen in Dörfern und Kleinstädten machte die Schaffung neuer Beziehungsmöglichkeiten erforderlich, nunmehr auf der rationalen Basis klar umschriebener Interessen. Das Getue mit den Statuten ist dafür die greifbarste Bestätigung. Indessen erschöpfte die Zweckgemeinschaft keineswegs die tatsächliche Funktion des Vereins. Das statuarisch fixierte Ziel war oft nur Mittel zur Befriedigung des Geselligkeitsbedürfnisses; dieses stand in Wirklichkeit meistens im Vordergrund. Ob offiziell streng einer sachorientierten Absicht verpflichtet - wie Landwirtschaftlicher Verein oder Gartenverein - oder ausgesprochen dem Vergnügen huldigend - wie Jahrgänger- und Namensvetternverein -, überall behauptete der charakteristische Vereinsgeist seine Herrschaft, dort weniger, hier mehr. Es gab keinen Gegegenstand, keine Beschäftigung, deren Pflege sich nicht ein oder mehrere Vereine verschrieben hätten.

Der vom Fabrikgesetz auf elf Stunden festgelegte Normalarbeitstag war zwar noch immer unmenschlich lang, aber aus ihm wuchsen immerhin die Anfänge dessen, was heute Freizeit heisst, und sie war die grosse Chance der Vereine. Schliesslich lebte sich in der Gründung zahlloser Vereine auch die Freude des emanzipierten Bürgertums über seine endlich errungenen Freiheiten aus. Die Bundesverfassung von 1848 hielt ausdrücklich das Recht auf Vereinsgründung fest.

Häufig entschied die Zugehörigkeit zu einem Verein auch über die gesellschaftliche Stellung, war sie doch so etwas wie ein offiziöser Ausweis für das Interesse an öffentlichen Dingen überhaupt. In der Frühzeit der Vereine beherrschten die Bürgerlichen die Szene. Seit der Jahrhundertmitte baute sich die Arbeiterschaft, die sich als eigene Klasse entdeckte, ihre besondere Vereinskultur auf, die jedoch äusserlich an dieselben Regeln gebunden war.

Liebhaber-Theater-Gesellschaft, Rorschach 1877-78
Liebhaber-Theater-Gesellschaft, Rorschach 1877-78

Es hat keinen Sinn, den reichen Rorschacher Vereinsfächer auseinanderzunehmen und im Detail zu betrachten. Ergebiger ist es, einige charakterisierende Informationen zur Sache zu liefern. Eines der Prinzipien, dem viele Vereine nachlebten, war die Bildung. Bürger wie Arbeiter huldigten in diesem lernbegeisterten Jahrhundert der schlichten Weisheit, dass Wissen Macht bedeute. Rührige Kunstvereine und Lesegesellschaften etabliertensich zum Wohl der Kultur in Städten und Städtchen, und liessen sich den Eifer nicht nehmen, auch wenn sie ihre geistigen Höhenflüge mit den unzulänglichsten Mitteln bewerkstelligen mussten. 1834 wurde in Rorschach die <Harmonie-Gesellschaft zum Schiff>, später <Museums-Gesellschaft> genannt, aus der Taufe gehoben. Trotz ihres Namens hatte sie, wie es die Formulierung ihrer Zielsetzung verrät: «Freundschaftliche Unterhaltung, die Neuigkeiten des Tages, ein mässiges gesellschaftliches Spiel»,93 mit einem Museum im heutigen Sinne nichts zu tun. Die bis 1937 existierende Museums-Gesellschaft unterhielt einen Leseraum, zuletzt (1907) im Restaurant <Ilge>. Dann wurden die Mitglieder mit einer Lesemappe bedient. Nach Bedürfnis organisierte sie auch Konzerte und Vorträge.

Neben den Turn- und Schützenvereinen verkörperten die verschiedenen Musikliebhaber-Gruppen den Vereinsgedanken am vollkommensten. Mit aller wünschenswerten Klarheit zeigt die Attitüde der Turn- und Schützenvereine, dass Sportlichkeit mitnichten das einzige Ziel dieser Gemeinschaften war; über Schützenscheiben und Barren lagerte die vaterländische Weltanschauung in dicken Wolken, wie überhaupt der Patriotismus in manchen Vereinen ein gewichtiges Wort mitredete. Der Turner, so heisst es in einem Zeitungsbericht, «sollte bedenken, dass er ... als Kämpfer sein Streben dem teuren, lieben Vaterland widmet.»94 Auf die reichste Tradition konnten die Schützenvereine zurückblicken, die, obgleich sie ihre grosse Zeit vor 1848 erlebt hatten, noch immer zu den verlässlichsten Staats- und Gesellschaftsstützen gehörten. 1874 nahmen die Rorschacher Feldschützen feierlich von ihrem über 250 Jahre alten Schützenhaus im Hengart Abschied. Am Portale des abbruchgeweihten Gebäudes prangte diese zeittypische Inschrift:

«Der freundlichen Stätte den letzten Gruss,
Uns führet der Forschritt von dannen,
Das Alte dem Neuen stets weichen muss,
So beschliesst es der Menschen Verlangen.»95

Die unbändige Festfreudigkeit, deren wahre Stütze die Vereine waren, soll noch gewürdigt werden. Hier vorerst einige Bemerkungen zu den Höhepunkten des Vereinslebens. Die Abendunterhaltungen und Wohltätigkeitsveranstaltungen erfreuten sich nicht nur stets eines zahlreichen Publikums, sie verhalfen auch manchen Dilettanten zur Stärkung ihres Selbstwertgefühles. «In dem Schwank <Gretchens Polterabend> hatte gestern Frl. Auguste F. als Gretchen Gelegenheit, sich besonders hervorzutun; sie war ein allerliebster Backfisch.»96 Wenn das kein Balsam war für Seelen, deren Leben sich sonst nicht in übermässig weiten Horizonten bewegte! In Begeisterung und Entzücken gerieten die Zuschauer bei den Keulen- und Pyramidenübungen der Turner: «Ihr habt Euch brav gehalten und Eure unermüdlichen Vorbereitungen wurden herrlich belohnt!»97 Trotz allem, was für eine unschuldige Zeit!

Wenn man bedenkt, dass auf den Dachböden der Museen unzählige Vereinsfahnen, Vereinsinsignien und -trophäen verstauben, geht einem auf, wie wenig die Jagd nach Seifenblasen eine Spezialität unseres Jahrhunderts ist. Nur gut, dass nicht auch noch all die Phrasen und Sprüche, welche das Vereinsleben hekatombenweise in die Welt gesetzt hat, in Gips überliefert wurden! Aber jede Zeit übt ihre Zwänge aus: «Wie der alte Grieche zuerst den Styx überschiffen musste, bevor er in den Hafen der Glückseligkeit gelangen konnte, so kann der Mensch unserer Zeit nur auf dem Wege des Vereinslebens zu Ehren und Ansehen gelangen»,98 charakterisierte anno 1881 der <Rorschacher Bote> zu treffend die Situation.

Weiterlesen im vorherigen / nächsten Kapitel.

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92 Schweizer Lexikon, Band VII. Zürich 1948
93 Statuten der Harmonie-Gesellschaft zum Schiff (1834). Heimatmuseum Rorschach
94 Lokales. Ostschweizereiches Wochenblatt, 12.12.1871
95 Ostschweizerisches Wochenblatt, 23.6.1874
96 Ostschweizerisches Wochenblatt, 18.1.1900
97 Ostschweizerisches Wochenblatt, 19.6.1873
98 Das Vereinsunwesen. Rorschacher Bote, 28.6.1881

Text: Louis Specker
Buchtitel: Rorschacher Kaleidoskop 1985, S.51-54
Historische Skizzen aus der Hafenstadt im hohen 19. Jahrhundert
Copyright: 1985 by E. Löpfe-Benz AG, Rorschach

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