Das Jahrhundertereignis von 1963

Blick vom Kurplatz auf die «Strasse Rorschach-Nonnenhorn». Photo: Franz Bleichenbacher
Blick vom Kurplatz auf die «Strasse Rorschach-Nonnenhorn»

Tagtäglich spazierten nun die Rorschacher zum Hafen und verfolgten das Wachsen der Eisdecke vom Kornhaus her bis über den Leuchtturm am Ende der Hafenmole. Hunderte von Wasservögeln spazierten auf dem Eis herum, sie litten Hunger und mussten gefüttert werden. Es kam vor, dass viele in der Nacht auf dem Eise anfroren und gerettet werden mussten. Mit Pickel und Kompressor wurde ein «Futterloch» ins Eis geschlagen, hier versammelten sich die Enten, Schwäne, Wasserhühner und Taucherli, sie bettelten Tag für Tag um Futter.

Am 6. Februar 1963 war der ganze See zugefroren Jakob Wahrenberger hielt dieses Ereignis in seinem Buch «Heimat am See» fest: Eine einzige, riesige Eisdecke lag Über dem Bodensee. Wo im Sommer leichtes Wellengekrüusel spielte, wo im Sturm hohe Wellenkämme auf die Hafrenmauer zustürmten, war nun alles erstarrt und still. Kein Boot, kein Schiff belebte das Bild.

Doch bald kam Leben auf den See. Wagemutige, aber auch Tollkühne wagten sich zu früh aufs Eis hinaus; einige büssten dabei ihr Leben ein. Die Behörden warnten immer wieder vor den grossen Gefahren, tagtäglich wurde der See untersucht und die Eisdecke gemessen.

Blick vom Idyll nach Osten zum Kornhaus Rorschach
Blick vom Idyll nach Osten zum Kornhaus Rorschach

Am 25. Februar 1963 wurde endlich das Betreten und Überqueren des Sees freigegeben. Mit diesem Tag setzte eine wahre Völkerwanderung ein. Aus nah und fern kamen Tausende angereist, kaum ein Bewohner des Seeufers liess es sich nehmen, die 14 Kilometer von Rorschach nach Nonnenhorn auf dem zugefrorenen See unter die Füsse zu nehmen. Schulen und Vereine erlebten geschlossen das Abenteuer, auf Skiern, Velos, Schlittschuhen, Pferden und Autos wurde der lange Weg zurückgelegt. Wie eine Ameisenstrasse sah es vom Flugzeug aus, die Völkerwanderung von Zehntausenden von hüben und drüben. Rorschach-Nonnenhorn, ein Marsch von 3 1/2 Stunden wurde zum unvergesslichen Ereignis.

Der Rorschacher Gemeinderat hielt eine Sitzung auf dem Eise ab, das gab auch den Ängstlichsten den Mut, über den See zu wandern. Von Zollkontrolle sprach niemand mehr, mitten auf dem See stand ganz verloren ein Wegweiser mit zwei Armen, die nach Nonnenhorn und Rorschach wiesen. Jeden Sonntag wurde dicht daneben ein Wurststand aufgebaut, die Gemeindeoberhäupter von hüben und drüben verstärkten die gegenseitigen Bande durch freundschaftliche Besuche. Gegen Ende Februar wich die grosse Kälte, am 9. März verbot das Bezirksamt das Betreten des Sees. Mildes Wetter brachte das Eis zum Schmelzen, in einer einzigen Nacht wurde die Rorschacher Bucht eisfrei. Das Jahrhundertereignis am Bodensee war vorbei.

Text: Ostschweiz, Februar 1983

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