Die Eisenbahnepidemie

Hauptbahnhof Rorschach, Aufnahme um 1880. Bild aus dem Atelier Mange und Labhart
Hauptbahnhof Rorschach, Aufnahme um 1880. Bild Mange und Labhart

Weil es sich bei der Eisenbahn um das Thema der Zeit schlechthin handelt, um das Symbol für die neue Dynamik in der Geschichte, interessiert uns hier vor allem die Rolle, die das neue Verkehrsmittel vor fünf Generationen im Bewusstsein der Öffentlichkeit gespielt hat, und wir können uns diese Einschränkung umso eher leisten, weil die regionale Verkehrsgeschichte bereits von mehreren Autoren eingehend behandelt worden ist.

Als Georg Stephenson 1825 mit Hilfe der Dampfkraft einen Zug über die 17 km lange Strecke von Stockton nach Darlington bewegte, begann der Triumphzug einer Errungenschaft, die tatsächlich, wie 1846 der St.Galler Professor Selinger prophetisch verkündete, zu den «weltumgestaltenden Erfindungen wie Kompass, Schiesspulver und Buchdruck»9 zu zählen ist. Alle Einwände dagegen blieben wirkungslos, und der aus medizinischen, politischen, weltanschaulichen und anderen Argumenten gebündelte Bannstrahl glitt an der eisernen Schlange ab wie das Schwert erfolgloser Helden an der schuppigen Drachenhaut - eine Eisenbahnepidemie erfasste Europa. Nachdem 1847 die erste Bahnlinie in unserm Lande eröffnet worden war, liessen sich auch die skeptischen Eidgenossen vom Nutzen des rollenden Dampfwunders überzeugen, und rasch wuchs ein Netz von Bahnverbindungen über das Mittelland.

Bis die Nordostschweiz davon erreicht wurde, war auf politischer Ebene allerdings noch einiges durchzufechten. Die liberalen Fortschrittsoptimisten hatten über Jahre hinweg einen Propagandafeldzug ohnegleichen zu führen, damit die Öffentlichkeit schliesslich die Eisenbahn nicht nur als etwas Vorteilhaftes  akzeptierte, sondern überzeugt war, beim Verzicht darauf, das Heil der Zukunft endgültig zu verspielen. Man setzte grosse Erwartungen in die Eisenbahn, in wirtschaftlicher wie ideeller Hinsicht. Die <Appenzeller Zeitung> wartete mit der Mahnung auf, «dass das schweizerische Volk in jeder Beziehung sich ermannen und das phlegmatische Sich-gehen-Lassen aufgeben muss, wenn es nicht aus den Freien Unfreie und aus dem glücklichen einen verarmenden Bürger machen soll.»10 Und wie kann es sich ermannen? Indem es sich aufrafft und Eisenbahnen baut.

Nachdem 1847 die Eisenbahn auf deutscher Seite bei Friedrichshafen den See erreicht hatte und sechs Jahre später die Linie München-Lindau eröffnet wurde, war es für die Nordostschweiz höchste Zeit, den Anschluss zu finden. Während die St.Gallisch-Appenzellische Eisenbahngesellschaft das Ziel anstrebte, die Städte Winterthur, Wil, St.Gallen und Rorschach durch den Schienenweg zu verbinden, hatte sich die Südost-Bahn der Aufgabe verschrieben, die Strecke von Rorschach nach Sargans und weiter nach Rapperswil ins Werk zu setzen. Für Rorschach standen indessen die Chancen anfänglich nicht sehr gut, denn noch 1836 hatte der st.gallische Strassen- und Wasserinspektor, Ingenieur Alois Negrelli, mit dogmatischer Sicherheit behauptet, es sei für eine bewegliche Lokomotive unmöglich, die Höhendifferenz zwischen Rorschach und St.Gallen zu überwinden. Auswärtige Erfahrungen zwangen zur Korrektur dieser Ansicht, und so konnten unter Regierungsrat Mathias Hungerbühler die Pläne mit Schwung realisiert werden. Im Oktober 1856 wurde die schwierige Strecke zwischen der Gallus-Stadt und dem Hafenort dem Betrieb übergeben. Damit war die Gefahr, dass der alte Handelsplatz der Verödung anheimfallen könnte, gebannt. Rorschach rettete einen Teil seiner überkommenen Rolle als Verkehrsknotenpunkt, welche ihm 947 zum Markt-, Münz- und Zollrecht verholfen hatte, in die neue Zeit hinüber. Den Kornhausbetrieb schloss man über eine Zweigbahn, die mitten durch das alte Kaufhaus fuhr, an die Hauptlinie an.

Eisenbahnlinie nach Arbon, um 1880. Photo: Traugott Schobinger
Eisenbahnlinie nach Arbon, um 1880. Photo: Traugott Schobinger

1869 kam die Bahnverbindung mit Romanshorn zustande. Lange, und nicht ohne bösartige Töne, hatte man wegen der Einmündung der Thurgauer Linie diskutiert. Zwei Möglichkeiten der Linienführung standen zur Wahl: «Die eine mündet am See derart ein, dass sie die Strasse von Horn nach Rorschach vom Rietle an einige Schuh ins Land hineindrängt, wodurch die Pappelallee ... gänzlich der Axt verfällt. Die andere Linie fährt durch die schönen Güter der H. H. Lutz, Stähelin-Wild, durchschneidet Frohheim und zieht sich zwischen Schützenhaus und Torkel (Bäumlistorkel), Gärten und Häuser demolierend ..., der höher liegenden St.Galler Linie entlang bis zum Bahnhofe.»11

Die zweite Version, obgleich auch sie ihre lautstarken Befürworter hatte, geriet aufgrund der funktionalistischen Überlegung, dass Hafen, Kornhaus und Eisenbahn voneinander profitieren sollten und dass natürliches Seeufer weniger wert sei als genutzte Besitzungen, bald ins Hintertreffen. «Wir müssen in Rorschach mehr auf die Nützlichkeit als auf die Schönheit des Sees spekulieren»,12 verkündete damals ein biederer Gemeinderat und offenbarte damit kurz und bündig den Kern des Zeitgeistes: den Drang nach dem Nutzen. Dieser Nützlichkeitsstandpunkt setzte sich bei der Bevölkerung, den Bahngesellschaften und der Regierung durch. Rorschach verlor seinen Corso, wie man den schönen Seeweg nannte.

Mit grossem Pomp wurde am 12. Oktober 1869 die Thurgauer Linie eingeweiht. Neben den offiziellen Vertretern nahm «die Bevölkerung der Ortschaften längs der Bahnlinie ... den freudigsten Anteil an diesem Feste und bekundete dadurch, dass sie die hohe Bedeutung dieses neuen Werkes für die Zukunft erkenne. Auf den Zwischenstationen wurde der Festzug freudig begrüsst und den hohen Gästen Nektar von blühenden Jungfrauen kredenzt.»13 Der Festzug bewegte sich vom Hafenbahnhof zum <Grünen Baum> hin und passierte Triumphbogen, an denen sinnreiche Sprüche prangten, z.B.:

«Die Seeschlang' ist kein Märchen mehr,
Sie zischt mit vollem Qualm daher;
Wir heisseii freudigst sie willkommm:
Denn uw sie bringt, das wird uns frommen.»14

Noch direkter huldigten diese tapsigen Verse der Krämerseligkeit:

«Es lebe die flotte Nordostbahn,
Sie fängt nicht alles von hinten an,
Ihre Aktien stehen stets gut und fest.
Die Dividende bleibt das Best.»15

Nicht nur am guten Wein betranken sich die braven Philister, sie schlürften den optimistischen Zeitgeist gleich kübelweise.

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9  Professor Selinger. Über den Nutzen der Eisenbahnen. Vortrag. Protokoll des Gesellenvereins St.Gallen, 5.1.1846.
    Stadtarchiv (Vadiana)
10 Eisenbahn. Appenzeller-Zeitung, 25.6.1845
11 Ostschweizerisches Wochenblatt, 30.10.1866
12 Ostschweizerisches Wochenblatt, 11.10.1869
13 Ostschweizerisches Wochenblatt, 14.10.1869
14 Ostschweizerisches Wochenblatt, 19.10.1869
15 Ebenda

Text: Louis Specker
Buchtitel: Rorschacher Kaleidoskop 1985, S.14-16
Historische Skizzen aus der Hafenstadt im hohen 19. Jahrhundert
Copyright: 1985 by E. Löpfe-Benz AG, Rorschach

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