Darwin in Rorschach - Eine tragikomische Episode aus dem Kulturkampf

Inspektion einer Provinzialschule. Aus: Neuer Distelikalenderfür 1874
Inspektion einer Provinzialschule. Aus: Neuer Distelikalenderfür 1874

Natürlich ist dieser Titel im übertragenen Sinne zu verstehen, aber die Aufregung hätte nicht grösser sein können, wäre Darwin in eigener Person hier aufgetaucht, als jene, die seiner Lehre wegen im braven Hafenstädtchen anno 1875 ausgebrochen war. Das Ärgernis, das die Gazetten monatelang mit Stoff versorgte, nahm seinen Ausgang von Mariaberg, das seit 1864 das kantonale Lehrerseminar beherbergte. Die Lehrerausbildung war während des Kulturkampfes im In- und Ausland zum bevorzugten Zankapfel politischer und religiöser Katzbalgereien geworden. Schon 1863, als das Kantonsschulgesetz zur Debatte stand, hatten die Konservativen ihren Einfluss zu wahren gesucht, indem sie allen Ernstes versuchten, die konfessionelle Trennung im Geschichtsunterricht durchzusetzen.

Es begann 1869 damit, dass der hochbegabte und fortschrittlich eingestellte Anton Philipp Largiadèr die Direktion des Lehrerseminars übernommen hatte. Mit seiner Person hielten ein freiheitlicher Geist und der unbeirrbare Wille auf Mariaberg Einzug, den Unterricht mehr nach den Forderungen der Wissenschaftlichkeit als nach jenen der ideologischen Weltbetrachtung auszurichten. Diese lobenswerte Absicht hätte er besser unterlassen, denn auch der Fortschritt will Weile haben - und hierzulande in der Regel noch etwas mehr.

Die Konservativen, die jedes Eindringen liberaler Ideen in die Schule hartnäckig bekämpften, weil sie nicht geneigt waren, sich vom <Gift der modernen Wissenschaft> Löcher in das schön gebaute Dogma fressen zu lassen, hielten ihre Argusaugen unentwegt auf Mariaberg gerichtet, um jederzeit reagieren zu können, falls dort etwas aufgetischt werden sollte, das zum frommen Firmenschild im eklatanten Widerspruch stand.

Anno 1875 war es dann soweit. Der <Rorschacher Bote> klagte anfangs Januar über die heillosen Zustände an den Schulen, ganz besonders aber über jene am Lehrerseminar, wo eine Clique Gottloser Reformer Tag für Tag nur damit beschäftigt sei, den Glauben in den Herzen der wehrlosen Schüler mit Stumpf und Stil auszurotten: «Von den fünf ordentlichen Professoren ist der Direktor nicht bloss für sich Reformer, sondern in erstaunlich kecker Weise und mit grossem Erfolg bemüht, seine Grundsätze auch den Zöglingen beizubringen; ein anderer ist Naturalist und macht hieraus kein Hehl, ein dritter hält die blosse Moral ohne alle Religion für zureichend; ein vierter ist längst erhaben über jede Religion, ob er Katholik oder Protestant sei, ist schon oft gefragt worden.»118 Um diesen Vorwüfen das nötige Gewicht zu verleihen, wurde gleich beigefügt, dass es auch um die Disziplin schlecht bestellt sei und dem Direktor kurzerhand jede wissenschaftliche Qualifikation abgesprochen.

Wir ahnen, welch fragwürdiges Ziel auf demagogischen Wegen angesteuert wurde. Aus nicht begriffenen Informationsfetzen bastelte man da an einer Schrotpatrone, mit der auch bei miserabelster Zielfertigkeit zuletzt so oder so irgendein Treffer zu verbuchen war. Am 16. Januar rückte die genannte Zeitung mit einem Beweis heraus, der selbst den skeptischsten Zeitgenossen davon überzeugen sollte, dass auf Mariaberg der Bildungsnotstand herrsche: Man hatte sich dort erdreistet, vom Darwinismus zu sprechen. Ungeheuerlicheres hätte man nicht verkünden können - das war das Stichwort, mit dem man die Emotionen unweigerlich zum Steigen brachte.

Mariaberg, Hauptportal. Aufnahme 1891 von Traugott Schobinger.
Mariaberg, Hauptportal. Aufnahme 1891.

«Wie - ein Christ ... soll daran kein Ärgernis nehmen, dass sich ein Seminardirektor Abkömmling eines Affen nennt und sich bemüht, diese ungeheuer schmeichelhafte Ansicht auch seinen Zöglingen beizubringen!?»119 Der Kerl von Kinderverderber war endlich überführt! Was war tatsächlich geschehen? Ein ehemaliger Schüler Larsgiadèrs berichtet: «Ein Schüler der Kasse hatte nämlich als Gegenstand seiner Vortragsübung Darwins Abstammungslehre gewählt, um darzulegen, wovon sie eigentlich handle.»120 Jetzt erhob sich ein weithörbares polemisches eines Brausen und Tosen, das sich zum Orkan steigerte, als Largiadèr noch die Stirn hatte, sich öffentlich zu verteidigen.

In den aufgeregten positiven Konfessionalisten wurde der Heldenmut verzweifelter Märtyrer wach, so dass sie sich mit einem gewaltigen Lärm und mit gezückten Federn auf den bedauernswerten Direktor und seine liberale Kumpanei stürzten. Wenn <Der Rorschacher Bote> die Sturmhaube aufgesetzt hatte und wütend gegen die Türen Mariabergs anrannte, so wollte er eigentlich den Liberalismus und dessen Staat, der den Konfessionen das Bildungsmonopol streitig machte, an einer empfindlichen Stelle treffen. Beide Seiten zeigten sich in der ihrer Waffen nicht zimperlich. Sie sparten weder mit Übertreibungen noch mit Diffamierungen, um die Vorurteile des gesunden Volksempfindens nach Kräften aufzustacheln. Vom heutigen Standpunkt aus fällt es zu leicht, über den Eifer der Konservativen den Stab zu brechen und ihre Rechthaberei der Lächerlichkeit preiszugeben. Die Gerechtigkeit verlangt indessen, dass wir uns in die Seelenlage dieser ernstlich verletzten Menschen versetzen, die nicht akzeptieren wollten, dass sie nichts anderes wären als «nur veredelte Affen in der Menagerie des aus einer unbekannten Kraft hervorgegangenen Weltalls.»121

Das 19. Jahrhundert hat im geistigen Leben einen wirklich gewaltigen Umbruch damit erzeugt, dass es alle Dinge und Verhältnisse unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung betrachtete; selbst die religiösen Lehren wurden als Resultate historisch wechselnder Bedingungen begriffen. Damit war unvermeidlich geworden, dass auch das, was man als unumstössliche Wahrheit vorgesetzt bekommen hatte, aus dem Naturschutzgebiet des Dogmas herausgeholt und vor das kritische Forum der Wissenschaft gezerrt wurde; ja es bestand die Gefahr der Relativierung ethischer Wertvorstellungen. Verzweiflung und Aggression folgten jeder Götterdämmerung, denn niemand kann verlangen, dass alle Menschen mit dem Schock fertig werden. Die Erbitterung der liberalen Presse über die «schwarze Brigade, (die) ... seit Wochen ihre Petroleumbomben ins alte Kloster»122 warf, stärkte nur die Entschlossenheit der erzürnten Konservativen, das «Darwinianeum» auszuräuchern. Im ganzen Kanton riefen sie die gläubigen Eltern auf, ihre Zöglinge von Mariaberg zu entfernen. Durch Aushungern also sollte das Bollwerk des Unglaubens zur Ubergabe gezwungen werden!

Weil gegen fanatische Glaubenskämpfer schwer anzukommen ist, verliess Largiadèr 1878 Mariaberg und folgte einem Ruf nach Deutschland. Die peinliche und traurige Geschichte ist von jener Art, die geneigt macht, dem Pessimisten Johannes Scherr zu glauben: «Alles wiederholt sich im Leben, das Dümmste und Schändlichste aber am häufigsten und liebsten.»123

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118 Unsere Schulzustände. Der Rorschacher Bote, 9.1.1875
119 Unsere Schulzustände. Der Rorschacher Bote, 16.1.1875
120 J. G. Hamann, Wachsen und Werden. Erinnerungen. St. Gallen 1925, S.76
121 Der Rorschacher Bote, 27.2.1875
122 Der Rorschacher Bote, 2.3.1875
123 Joh. Scherr, Hammerschläge und Historien. Zürich 1872, S.230

Text: Louis Specker
Buchtitel: Rorschacher Kaleidoskop 1985, S.59-61
Historische Skizzen aus der Hafenstadt im hohen 19. Jahrhundert
Copyright: 1985 by E. Löpfe-Benz AG, Rorschach