Mensch und Natur

Staad. Blick gegen Westen um 1860. Oelbild von Joseph Martignoni.
Staad. Blick gegen Westen um 1860. Oelbild von Joseph Martignoni.

Unter dem Einfluss von Naturwissenschaft und Technik änderte sich im 19. Jahrhundert das Verhältnis der Menschen zur Natur grundlegend. Dieser Wandel ist von derart fundamentalem Charakter, dass, wer ihn wahrgenommen hat, nie mehr jenen naiven Ausspruch von der Technik als einem neutralen Mittel, bei dem es nur darauf ankomme, wie man es einsetze, für bare Münze nimmt. Keine geschichtliche Betrachtung darf über diesen Prozess hinweggehen.

Was bewundernswerte Gedankenarbeit seit vielen hundert Jahren an Erkenntnissen über die Natur Zusammengetragen hatte, fand nunmehr im grossen Stile Anwendung und begann alle Gegebenheiten und Lebensverhältnisse zu revolutionieren. Zwischen Mensch und Natur, die ehedem in enger Schicksalsgemeinschaft miteinander verbunden gewesen waren, baute sich Etappe um Etappe eine künstliche Welt auf, die Technik. Sie verhiess unbeschränkte Möglichkeiten zur Behebung der irdischen Unzulänglichkeiten, versprach gar die Lösung aus der Abhängigkeit von den Unberechenbarkeiten der Natur. Der prometheische Traum von der göttergleichen Macht des Menschen schien am Horizont der Wirklichkeit heraufzudämmern.

So hob das gewaltige Unternehmen an, die Erde endgültig untertänig zu machen, eine Erde, die nicht mehr als unantastbare Schöpfung Gottes verehrt und mit Respekt, sondern als ein dem Menschen vorbehaltlos zur Verfiigung stehendes Nutzobjekt behandelt wurde. Man ermesse den Grad der erreichten Naturentfremdung in dieser Zeit etwa an diesen Verszeilen aus einem 1887 geschriebenen Gedichte von Hermann Conradi und erinnere sich dabei des Naturgefühls der vorangegangenen Romantik:

«Der frischgedüngte Acker stinkt empörend -
Doch ist sein Stunk nicht gerade unbelehrend:
Nur wer das Leben überstinkt, wird siegen.»42

Die überschwemmte Hauptstrasse. Photo vom August 1890.
Die überschwemmte Hauptstrasse. Photo vom August 1890.

Naturschwärmerei ohne Hintergedanken war in dieser Zeit Leb dem Makel der Lächerlichkeit behaftet, und nur was handfesten Nutzen abwarf, fand Gnade. In den Schulbüchern teilte man in anmassender Geste Pflanzen und Tiere in nützliche und schädliche Arten ein, gebärdete sich überhaupt als stolzer Mittelpunkt der Schöpfung, schaufelte mit Ingrimm den alten Göttern das Grab und schmiss ihnen tränenlos nach, was keinen greifbaren Erfolg erwarten liess.

Ein Beispiel der Geringschätzung alles dessen, was dem Mass des Menschen nicht entsprach, haben wir angeführt bei der Behandlung des Eisenbahn-Themas: Im Denken der Zeitgenossen sprachen alle Argumente gegen die Schonung des herrlichen Ufers und für den Bau der Eisenbahn an dieser Stelle. Harmlose Anfänge der brutalen Naturzerstörung unserer Tage, aber dennoch Anfänge. Noch trampelte der Zivilisationsstiefel mit relativ bescheidener Wirkung in der Landschaft herum,  aber die Marschrichtung, von der wir bis heute nicht abgekommen sind, war eingeschlagen.

Verglichen mit den gegenwärtigen Verhältnissen bot sich die Bodensee-Landschaft im 19. Jahrhundert noch als wahres Paradies dar, ein gewaltiger Vorrat an wenig berührter Natur umgab Wohnstätten und Arbeitsplätze. Bildliche Darstellungen und begeisterte Schilderungen von Reiseschriftstellern bezeugen  das harmonische Nebeneinander von Natur und Menschenwerk. Was sie uns enthüllen, stellt an die Glaubenswilligkeit moderner Leser keine geringen Anforderungen. Im <Neujahrsblatt> auf das Jahr 1829, herausgegeben vom wissenschaftlichen Verein St.Gallen, entdecken wir diese Beschreibung: «Mag man es (das Ufer des Bezirkes Rorschach) von Schwabens Gefilden herb überkommend, vom Schiff aus begrüssen, oder von den luftigen Höhen des Berglandes in dasselbe herb abschauen - es ist ein herrlicher Gottesgarten ... eine Gegend, wo in wechselnder Anmut das Kräftige und das Zarte der Natur sich vermählen und wo nicht leere, sondern nützliche Schönheit - der Nutzen ist auch schön in den Augen der Menschenkinder - sich darstellt, zumal in üppiger Fülle - eine solche Gegend hat Reiz für die verschiedenartigsten Menschengemüter.»43

Gaststube im Restaurant «Goldener Reif». Thurgauerstrasse um 1910.
Gaststube im Restaurant «Goldener Reif». Thurgauerstrasse um 1910.

Einige Jahrzehnte später sind der Superlative in den Schilderungen der Rorschacher Gegend nicht weniger geworden, und wenn auch in Rechnung zu stellen ist, dass propagandistische Sehweise zugunsten des aufstrebenden Fremdenverkehrs ihre Hand im Spiele hatte, so bleibt genug zum Staunen. Also äussert sich der Verfasser des 1880 erschienenen Werkes <Die Bäder und klimatischen Kurorte der Schweiz>: «Die völlig freie Überschau der Wasserfläche nach Norden und Westen, die fast meerähnliche Gestaltung, die herrlichen Luft- und Farbenspiele im Sommer, wenn die Sonne in vollem Glanze hinter dem offenen Ufer des Seespiegels auf- und niedertaucht, die an italienische Leuchtkraft erinnernden Sonnenuntergänge, ... der frohmütige, freie, offene, heitere Charakter des Sees klingen physisch im Gemüte nach und wirken fast unbemerkt und doch eingreifend auch hygienisch.»44

Der Reiz alter Stiche, nach deren Besitz so manches Sammlerherz mit geradezu fetischistischer Verbissenheit strebt, ist vorzüglich darin zu suchen, dass sie uns eine Welt vorstellen, in der sich friedlich und ohne heroische Anstrengung leben liess, sofern  nicht soziale Not Bedrängnis brachte. Die arkadische Bodenseelandschaft meinte es mit ihren Menschen besonders gut und liess sie im grossen und ganzen unbehelligt ihres Weges ziehen. Ohne Probleme konnten sich die Menschen dem Rhythmus einer Natur anpassen, die nur selten Überraschungen bot, und wenn dies manchmal geschah, dann nicht selten in harmloser oder gar amüsanter Art.

Manchmal fror der See zu, so in den Jahren 1830 und 1880, manchmal trat er über die Ufer, wie etwa 1890. Böse Schäden allerdings richteten von Zeit zu Zeit heftige Stürme an, wie z.B. Anno 1863, im August, als ein zorniger Föhn Äpfel und Birnen zentnerweise von den Bäumen schüttelte und zahlreiche Schiffer in Seenot brachte.

Eine Tierwelt, wie sie uns in dieser Vollständigkeit nur noch aus den Lehrbüchern bekannt ist, bevölkerte See und Land. Noch in den siebziger Jahren war es keine Seltenheit, dass in unmittelbarer Nähe der Häuser am See Fischotter gesichtet wurden. Jäger und Fischer hatten keine Mühe, auf ihre Rechnung zu kommen. Zu Tausenden wurden die Fische eingefangen, wenn sie, um ihren Laich abzulegen, dem seichten Ufer zuströmten. Uberall noch erreichte die Stimme der Natur in dieser stillen Welt des Menschen Ohr. Unterdessen ist das Lied, das in allen Dingen schläft, vom Lärm und Betrieb längst erstickt worden.

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42 H. Conradi <Herbst>. In: Die deutsche Literatur. Ein Abriss in Text und Darstellung. Band 12: Naturalismus.
     Stuttgart 1977, S197
43 Neujahrsblatt auf das Jahr 1829, herausgegeben vom wissenschaftlichen Verein in St.Gallen. In: Der Kanton
     St.Gallen oder geografisch statistisch naturkundliche Darstellung seiner acht, nun fünfzehn Bezirke.
     St.Gallen 1836, S.6
44 Th. Gsell-Fels, Die Bäder und klimatischen Kurorte der Schweiz. Zürich 1880, S.481

Text: Louis Specker
Buchtitel: Rorschacher Kaleidoskop 1985, S.28-30
Historische Skizzen aus der Hafenstadt im hohen 19. Jahrhundert
Copyright: 1985 by E. Löpfe-Benz AG, Rorschach

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